Tauchgang an der blauen Distel
Der Zweite Weltkrieg hat überall seine Spuren hinterlassen. So auch in der
Seestrasse von Gubal, zwischen Ägypten und der Sinai - Halbinsel. Was 1941
eine Tragödie war, ist heute ein Traumziel für Sporttaucher.
Die Sterne stehen noch am Himmel, als unser Boot um vier Uhr morgens den Hafen von Sharm-el-Sheik verlässt. Insgesamt befinden sich vier ägyptische Matrosen, drei Tauchguides und zehn Taucher auf unserem Boot. Nur der Kapitän und ich sind wach, alle anderen liegen irgendwo auf oder unter Deck und holen die verpassten Stunden Schlaf nach. So habe ich den wunderschönen Sonnenaufgang fast für mich alleine. Ich sitze im Heck des Bootes und geniesse die friedliche Stimmung. Unser Ziel befindet sich vier Stunden entfernt, in der Strasse von Gubal. Wir wollen zum legendären Schiffswrack der „Thistlegorm" (gällisch für „blaue Distel").
Der Weg ins Verderben
Der 126 Meter lange britische Frachter Thistlegorm lief 1940 in Nordengland vom Stapel. Er wurde von der britischen Armee eingesetzt, um Material für die Truppen in Nordafrika zu transportieren. Im August 1941 brach die Thistlegorni von Glasgow zu ihrer vierten und letzten Reise auf. In den Frachträumen befand sich eine Ladung \Vaffen, Granaten verschiedenen Kalibers, Panzer, Lastwagen, Motorräder und Flugzeugteile. Als Deekfracht wurden zudem zwei Lokomotiven und einige Güterwagen transportiert. Das Material war für die 8. Armee der Royal Army bestimmt, welche eine Grossoffensive gegen das deutsche Afrikakorps unter Generalfeldmarschall Rommel vorbereitete (Operation Crussader). Seit die Deutsche Wehrmacht Kreta eingenommen hatte, war das Mittelmeer fest in der Hand der Achsenmächte. Die Thistlegorm wählte deshalb den vermeintlich sicheren Weg um Afrika herum und weiter durch den Suezkanal. Sie fuhr in einem Konvoi mit zwanzig weiteren Schiffen, geschützt durch das Kriegssehiff HMS Carlisle. Da der Suezkanal wegen einer Kollision zwischen zwei Schiffen gesperrt war, musste der Konvoi östlich der Südspitze der Sinaihalbinsel die Freigabe abwarten. In der Nacht des 6. Oktober 1941, um 01.30 Uhr, entdeckten zwei deutsche Flugzeuge die vor Anker liegenden Schiffe. Die beiden Maschinen, eine davon ein Heinkel He 111-Bomber, mit zwei Spezialbomben zur Sehiffsbekämpfung ausgestattet, waren von Kreta mit dem Auftrag gestartet, den Truppentransporter RMS Queen Mary zu versenken. Da sie diesen nicht finden konnten, entschieden sie sich, die vor Anker liegenden Schiffe anzugreifen. Nachdem sie die Thistlegorm als lohnendes Ziel ausgemacht hatten, griffen sie im Tiefflug an und warfen ihre tödliche Fracht ab. Ob nur eine oder beide Bomben ihr Ziel trafen, ist nicht bekannt. Das Ergebnis war auf jeden Fall vernichtend. Die Thistlegorm wurde auf Höhe des vierten Laderaumes, unmittelbar hinter der Brücke getroffen. Dadurch explodierte ein Teil der Ladung in den Frachträumen. Augenzeugenberichten zufolge erinnerte die hochgehende Leuchtspurmunition an ein Feuerwerk. Das Heck des Schiffes brach durch die Detonationen weg, die Thistlegorm klappte wie ein Schweizer Armeesackmesser zusammen und sank innert kürzester Zeit. Neun der neununddreissig Besatzungsmitglieder wurden getötet.
1956 wurde das Wrack durch den Tauchpionier Jacques-Yves Cousteau während einer Expedition wieder entdeckt. Bei dieser Gelegenheit barg seine Mannschaft auch den Tresor des Kapitäns. Dieser enthielt jedoch lediglich verrottete Schiffspapiere. Danach blieb es für viele Jahre ruhig um das Schiffswrack. Bis 1991 die ersten Sporttaucher in ihre Laderäume vordrangen.

Der erste Tauchgang
Als wir unser Ziel erreichen, befinden sich bereits vier andere Tauchboote vor Ort. Da die Sicht am Wrack umso besser ist, je weniger Taucher unten sind, beeilen wir uns. Während wir unsere Ausrüstung anlegen, taucht einer der Guides bereits ab, um eine Leine an der Thistlegorm zu befestigen.An dieser werden wir Ab- und Aufsteigen. Sean, der Chef der Tauchguides, macht uns noch einmal darauf aufmerk-sam, auf dem Schiff nichts zu berühren. Vor allem von alten Granaten und sonstigen Munitionsrückständen sollen wir unserer Gesundheit zuliebe die Finger lassen. Es ist auch streng verboten, Souvenirs mit an die Oberfläche zu bringen. Die ägyptischen Behörden verstehen in dieser Beziehung keinen Spass, und der Zimmerservice in den lokalen Gefängnissen geniesst nicht den besten Ruf. Wenn man Sean glauben darf, hat er damit schon persönlich Bekanntschaft gemacht. Getaucht wird in Zweiergruppen. Markus und ich springen ins Wasser und verschwinden in der Tiefe. Das Licht wird schnell schwächer. Gespenstisch tauchen plötzlich die ersten Aufbauten des Wracks unter uns aus der Dunkelheit auf. Der Tiefenmesser an meinem Handgelenk zeigt 17 Meter an. Wir tauchen weiter ab, bis wir in 22 Metern Tiefe das Deck erreichen. Die Strömung am Wrack ist aussergewöhnlich stark, nur im Schatten der Aufbauten ist ein Vorwärtskommen möglich. Sollte uns die Strömung vom Wrack wegtreiben, wird‘s gefährlich. Bis man aufgetaucht ist und sich bemerkbar machen könnte, wäre das Tauchboot vermutlich bereits nur noch ein kleiner Fleck am Horizont.
Auf dem Deck der Thistlegorm ist vieles noch intakt. Die Ankerwinde ebenso wie das Fliegerabwehrgeschütz, welches nie einen Schuss abgefeuert hat. Sämtliche Metallteile sind mit Weichkorallen und Schwämmen bedeckt, Fischschwärme ziehen ihre Kreise. Das die Thistlegorm Teil eines blutigen Konfliktes war, lässt sich hier nur noch erahnen.
Wo die Thistlegorm durch die Fliegerbombe getroffen wurde, klafft ein grosses Loch im Rumpf. Durch dieses tauchen Markus und ich ins Innere des Schiffes. Unmittelbar neben dem Eingang liegen die Reste eines alten Panzers. Im Halbdunkel der Laderäume stehen die Motorräder und Lastwagen Rad an Rad; die Reifen sehen aus als wären sie immer noch mit Luft gefüllt. Bei fast allen Motorrädern fehlen die Tachos, mitgenommen von Souvenirjägern. Unzählige Granaten und Munitionsbestandteile rosten vor sich hin. Die Gänge sind dunkel und eng.Ein zu starker Schlag mit den Flossen und die Welt ringsherum versinkt in Staub und Schlamm. Wer nicht aufpasst, kann sich schnell mit dem Ventil der Tauchflasche irgendwo verhalten. Ein unbedachter Griff an das rostige Metall des Schiffswracks hat schon von mehr als einem Taucher Blutzoll gefordert. Die Neoprenhandschuhe, die wir zum Schutz tragen, würden den scharfen Kanten nicht viel Widerstand entgegensetzen. Lautlos schwebe ich durch die Gänge, durch die vor sechzig Jahren die Matrosen vor den deutschen Bomben zu fliehen versuchten. Die Luftblasen unserer ausgea

tmeten Luft sammeln sich unter der Decke. Überall liegen Ausrüstungsgegenstände herum, Gummistiefel, Gasmasken und Kochgeschirr. Ich versuche, mir vorzustellen, welche Panik in der Schicksalsnacht herrschte, als das Schiff brannte und ringsherum Explosionen ertönten. Markus leuchtet mit seiner Lampe eine dunkle Ecke aus. Ich zucke zurück, weil ich einen Totenkopf zu sehen glaube. Der Lichtkegel wandert weiter, mein Buddy hat nichts bemerkt. Vielleicht hat mir meine Phantasie einen Streich gespielt. Nach einer so langen Zeit im Salzwasser, dürfte von den sterblichen Überresten der neun getöteten Matrosen eigentlich nichts mehr vorhanden sein. Durch die grosse, offene Ladeluke ‘erlassen wir das Schiffsinnere und tauchen zum tiefsten Punkt des Wracks, der Schiffsschraube. In dreissig Metern Tiefe ruht sie auf dem sandigen Grund. Sie ist intakt, und es erscheint beinahe so, als würde sie nur darauf warten, dass die Thistlegorm wieder über die Meere fährt. Unter der Schraube haben sich drei grosse Zackenbarsche niedergelassen. Sie beäugen uns, zeigen aber überhaupt keine Scheu. Irgendwie verständlich, wenn man bedenkt, dass pro Tag zwischen achtzig und hundert Taucher das Wrack besuchen. Nach dreissig Minuten beenden wir die erste Erkundung und steigen entlang der Sicherheitsleine wieder auf. Über Wasser hat sich mittlerweile einiges getan; es sind bereits zwölf Tauchboote vor Ort. Unsere Schiffsbesatzung hält für uns warmen Tee bereit, welchen wir auch dankend annehmen. Unter Wasser kühlt man schnell aus, auch wenn die Temperaturen wesentlich höher sind als wir es aus Schweizer Gewässern gewohnt sind.
Der zweite Tauchgang
Nach einer zweistündigen Pause wollen wir sie noch einmal besuchen. So schnell wie möglich tauchen Markus und ich ab. Wir beginnen diesmal am Bug der Thistlegorm. Von vorne sieht das Wrack im grünlich schimmernden Wasser gigantisch aus. Der Anker auf der Backbordseite ist noch vorhanden, Steuerbord wurde er weggerissen. Entlang des Schiffes tauchen wir Richtung Heck. In einigen Metern Entfernung sind die Umrisse einer Lokomotive erkennbar. Sie wurde vom Schiff veggeschleudert und steht heute ca. dreissig Meter vom Wrack entfernt auf Grund. Zu ihr hinzutauchen ist wegen der Strömungsverhältnisse die zurzeit herrschen lebensgefährlich. Wir wollen noch einmal in die Innenräume. Nur tummeln sich dort mittlerweile so viele Taucher, dass ein grösseres Gedränge als zur Hauptverkehrszeit auf einer stark befahrenen Autobahn herrscht. Wir tauchen weiter zum Heck des Schiffes, wo sich die Schlafräume der Mannschaft befanden. Diese machen aber bei weitem nicht soviel her wie die Laderäume. Nach einer Runde um die Eisenbahnwagen, die auf dem vorderen Teil des Decks noch immer mit Eisenketten festgemacht sind, tauchen wir weiter zur ehemaligen Brücke des Schiffes. Diese ist noch intakt, nur das Dach fehlt. Ein Blick auf die Anzeigen unserer Tauchflaschen zeigt, dass sich die Nadel bereits wieder dem roten Bereich nähert. Nach fünfunddreissig Minuten begeben wir uns zu unserer Sicherheitsleine und wollen mit dem Aufstieg beginnen. Wo bei unserem Abstieg nur eine Leine befestigt war, sind es mittlerweile mehr als zehn. Dass wir die richtige treffen, ist reine Glücksache. Zurück auf dem Boot erwartet uns wieder heisser Tee. Auf der Rückfahrt nach Sharm-el-Sheik wird unter den Tauchern gefachsimpelt und geschwärmt. Dabei stellt sich wieder einmal heraus, dass sich Taucher und Fischer sehr ähnlich sind. Aus kleinen Fischchen werden schnell mal weisse Haie! Der relativ gute Zustand des Wracks, die noch vorhandene Ladung und die Möglichkeit, ins Schiffsinnere zu tauchen, machen die Thistlegorm auf jeden Fall zu einem einzigartigen Erlebnis.
Als wir wieder in den Hafen von Sharm-el-Sheik einlaufen, stehen bereits die Sterne am Himmel, der Vollmond beleuchtet die vor Anker liegenden Schiffe. Bei einem kalten Bier auf der Dachterrasse unseres Hotels lassen wir einen unvergesslichen Tag ausklingen. Zurück bleiben die Gedanken an die Thistlegorni und ihr trauriges Schicksal damals in der Nacht vom 6. Oktober 1941.